„Digitale Transformation der Baubranche gelingt nur mit gemeinsamen Standards“

Ines Prokop (l.) und Markus Gallenberger (r.) widmen sich im Interview aktuellen Themen der Baubranche.

Auf dem Weg zur Erreichung der ambitionierten Klimaziele wird es für die Baubranche darum gehen, die Potenziale der Digitalisierung auszuschöpfen. Im Interview diskutieren Ines Prokop, Geschäftsführerin des BVBS, und Markus Gallenberger, CEO von FRILO, SCIA und DC-Software, welchen Einfluss die Planungsphase auf nachhaltiges Bauen hat, warum das Structural Analysis Format (SAF) der Arbeitsmethode BIM gut tut und warum Tragwerksplaner von der neu geformten Nemetschek Engineering profitieren.

Guten Tag Frau Prokop, guten Tag Herr Gallenberger. Der Bausektor war im Jahr 2021 für rund 40% der weltweiten CO2-Emssionen verantwortlich. Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung werden die Zukunft des Bauens stark prägen müssen, damit die ambitionierten Klimaziele erreicht werden können. Mit welchen Strategien gelingt es, die Auswirkungen von Baumaßnahmen auf das Klima und die Umwelt zu reduzieren?

Prokop: Das Erreichen der vereinbarten Klimaschutzziele bis 2050 ist eine enorme Herausforderung für die Baubranche. Im Grunde muss ein Paradigmenwechsel vollzogen werden. Einerseits gilt es, den Umgang mit Bestandsbauten zu optimieren, indem wir bestehende Bauwerke so lange wie möglich erhalten und nutzen. Andererseits muss das Ziel sein, langlebige Neubauten zu errichten und dabei deutlich weniger CO₂ freizusetzen. Beides geht nur mit der Unterstützung digitaler Methoden.

Gallenberger: Nachhaltiges und effizientes Bauen kann überall dort umgesetzt werden, wo der Lebenszyklus eines Bauwerks ganzheitlich betrachtet wird. Dieser Kreislauf beginnt mit der Herstellung der zu verbauenden Baustoffe, umfasst die Planung und den eigentlichen Bauprozess, aber auch den Betrieb, die Sanierung und den Rückbau eines Gebäudes. Digitale Lösungen machen diese ganzheitliche Betrachtung erst möglich. Darum gehen nachhaltiges Bauen und die Digitalisierung Hand in Hand und ergänzen sich.

Sie deuten es bereits an: vor allem der Digitalisierung wohnen enorme Potenziale inne. Welche Konzepte fördern diese Potenziale zutage?

Gallenberger: Das Konzept der Building Lifecycle Intelligence ist darauf ausgelegt, Daten eines Gebäudes von der Planung über den Bau bis hin zum Betrieb zu sammeln und an einem zentralen Ort für alle Projektbeteiligten zu organisieren. In einem offenen, vernetzten Ökosystem werden Informationen aus jeder Lebenszyklus-Phase zusammengetragen, sodass sich sämtliche Änderungen am Bauwerk nachverfolgen lassen. Datenverluste und Fehlerquellen, die typischerweise beim interdisziplinären Informationsaustausch auftreten, können dank offener Protokolle und Standards minimiert werden. Dem digitalen Zwilling kommt auf dem Weg zu mehr Effizienz eine zentrale und wachsende Bedeutung zu.

Der Begriff des digitalen Zwillings klingt verheißungsvoll. Was genau verbirgt sich dahinter?

Gallenberger: Der digitale Zwilling ist eine virtuelle Kopie eines realen Bauwerks, die sich mit dem physischen Original ständig im Gleichklang weiterentwickelt. Auf diese Weise lässt sich der Bau eines Gebäudes bereits in der Planungsphase simulieren. Aspekte der Nachhaltigkeit können ebenso vor Baubeginn berücksichtigt werden wie geplante Sanierungen oder Veränderungen der Gebäudenutzung. Weil eine Projektion in die Zukunft möglich ist, kann nachhaltiger geplant, gebaut, betrieben und rückgebaut werden.

Frau Prokop, Sie sind die Geschäftsführerin des Bundesverbands für Bausoftware in Deutschland. Welche Rolle übernimmt der BVBS bei der Förderung der Digitalisierung im Bauwesen?

Prokop: Der Bundesverband Bausoftware wurde 1993 gegründet und verfolgt seit jeher das Ziel, die Leistungsfähigkeit und die Innovationskraft der Bauwirtschaft durch den Einsatz von Bausoftware zu verbessern. Der BVBS ist der einzige Verband, dessen Mitglieder mit ihren digitalen Lösungen die gesamte Wertschöpfungskette des Bauwesens abbilden. Aufgrund dieses weiten Spektrums fungieren wir sowohl für die Politik als auch für die alle Beteiligten der Baubranche als Ansprechpartner.

Wie setzt sich der BVBS konkret für die digitale Transformation ein?

Prokop: Um die Digitalisierung voranzutreiben, entwickelt der BVBS seit Jahren Schnittstellen und führt beispielsweise Zertifizierungen für den Datenaustausch von Softwareanwendungen durch. Wir haben festgestellt, dass die Zertifizierungen und die damit zusammenhängenden Standardisierungen zu einer enormen Qualitätssteigerung geführt haben. Hinzu kommen die fachliche Beratung und der fachliche Austausch, für den wir Plattformen schaffen.

Kommen wir nochmal auf den Lebenszyklus eines Gebäudes zurück. Inwiefern prägt speziell die Planungsphase diesen Zyklus?

Gallenberger: Aus ökonomischer und ökologischer Sicht ist die Planungsphase maßgebend, denn sie legt den Grundstein für ein effizientes Bauen. In der Planungsphase wird ein konsistentes Modell erstellt, auf das die Projektbeteiligten als zentrale Datenreferenz zu jeder Phase des Lebenszyklus zugreifen. Durch aktive Steuerung kann in der Planungsphase der größte Einfluss auf Lebenszykluskosten, die technische Realisierbarkeit und die Langlebigkeit eines Bauwerks genommen werden.

Prokop: Mit digitalen Methoden haben wir die Möglichkeit, in einer ganz frühen Planungsphase die Gebäudestruktur oder auch den Materialeinsatz zu optimieren. So lässt sich eine CO₂-Analyse durchführen und beurteilen, welches Material den CO₂-Fußabdruck an welcher Stelle verringert. Dank solcher softwaregestützter Vergleichsstudien können Planer bereits in einem frühen Stadium mit den Bauherren in den Dialog treten, um gemeinsam die Bauwende zu bewerkstelligen.

Frau Prokop, zu den Mitgliedern des BVBS gehören auch einige Anbieter von Softwaresystemen für statische Berechnungen. Welchen Beitrag kann die softwaregestützte Tragwerksplanung zu einem nachhaltigen und ressourceneffizienten Bauen leisten?

Prokop: Die softwaregestützte Tragwerksplanung ist ein essenzieller Baustein bei der materialeffizienten Entwicklung nachhaltiger Tragwerke. Bei einem Massivbauwerk entfallen über 50 % der CO₂-Emissionen, die durch den Bauprozess erzeugt werden, auf das Tragwerk. Das bedeutet, dass in der Bemessung von Tragwerken ein enormes Potenzial zur Einsparung von CO₂ liegt. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir verlernt, ressourceneffizient zu bauen, weil es vor allem schnell gehen musste. Die Klimaziele und die steigenden Preise für Baustoffe wie Stahl und Stahlbeton zwingen Tragwerksplaner nun dazu, Rohstoffe wieder sinnvoller einzusetzen. Software für die Tragwerksplanung ist als Werkzeug Grundvoraussetzung dafür, die richtige Balance zwischen Materialeffizienz und Nachhaltigkeit einerseits und einem wirtschaftlichen Bauprozess andererseits zu finden.

Nun sind nicht nur die Tragwerksplaner, sondern auch die Architekten in die Planungsphase eingebunden. Um die Planung möglichst effizient zu gestalten, bietet es sich an, die Zusammenarbeit dieser Akteure zu optimieren. Wie kann das künftig gelingen?

Gallenberger: Architekten, Tragwerksplaner und Prüfstatiker arbeiten allesamt mit speziellen Software-Lösungen, die auf ihre jeweiligen Bedürfnisse zugeschnitten sind. Um die Disziplinen zusammenzubringen, lässt sich mit digitalen, softwaregestützten Lösungen ein Umfeld erzeugen, in dem der intelligente Datenaustausch zwischen Architekten und Tragwerksplanern weitgehend automatisiert vonstattengeht. Richtig eingesetzt, können die verschiedenen Gewerke nach dem Leitgedanken der Arbeitsmethode BIM effizienter, präziser und flexibler zusammenarbeiten – vor allem dann, wenn die Lösungen OPEN-BIM unterstützen.